Ganz unten, oben im Norden 2021
Für das Jahr 2021 planen wir eine Zusammenarbeit mit drei Musikern aus dem Norden, der von Rhein und Ruhr aus gesehen immer als oben empfunden wird. Betrachten wir den Wortstamm, landen wir beim griechischen nérteros, was für unten/unter steht. Sehr verständlich, denn dort ist die Sonne ja ganz „unten“.
Genug des Wortspiels – was soll musikalisch passieren? Bei der Konzeption eines neuen Jazzprojekts macht es Sinn, einmal zu analysieren, in welchem Verhältnis Komposition und Improvisation zueinander stehen. Zwei Varianten sind bestens bekannt und prägen einen Großteil der Szene.
Variante 1 ist die quasi klassische Jazzkomposition, die aus einem Thema besteht, dessen formale und harmonische Struktur sich für die Dauer des gesamten Stücks ständig wiederholt. Eigentlich merkwürdig, dass nicht häufiger darauf hingewiesen wird, dass 90% aller Jazzstücke die Form des Rondo verfolgen. Aus Sicht der klassischen Musik ist es schwer verständlich, wenn dann der melodische Schlussteil absolut identisch mit dem Beginn des Stücks ist. Egal welche dramatischen Entwicklungen die improvisierten Partien erspielt haben, sie schaffen es nicht, das Ende zur Variation zu bewegen. Ergo, es wird zwar improvisiert, aber letztlich dreht sich eine recht kurze Form ununterbrochen im Kreis.
Variante 2 ist die komplett freie Improvisation. Entstanden fraglos aus dem Wunsch/Drang, das sich immerfort drehende Rondo zu verlassen. Was als Free Jazz begann, bekam später noch als Schwester die Improvisierte Musik hinzu. Das gleichzusetzen sollte vermieden werden, legen z.B. mit Peter Brötzmann und Alexander von Schlippenbach zwei führende Improvisatoren nach wie vor großen Wert darauf, als Jazzmusiker bezeichnet zu werden. Was die Frage der Form betrifft, sei bei allem Respekt für die freie Improvisation der fast skurrile Aspekt genannt, dass die „freie Form“ fast immer nach 45 Minuten zu einem Ende kommt – also konstatieren wir auch hier eine 90% Homogenität, die die Freiheit eigentlich ad absurdum führt.
Was wir bei dem Projekt „Ganz unten, oben im Norden“ angehen möchten, ist ein Umgang mit der Form, die dem Klischee widerspricht. Kompositorische Elemente sollen sich nicht im Kreis drehen und trotzdem in einem ideen- und formgebenden Bezug zur Improvisation stehen. Die Improvisation soll bei größtmöglicher Freiheit einen determinierten Rahmen haben, der ihr Richtung und Form geben darf. Natürlich ist uns klar, dass dies keine neue Idee des Jahres 2021 ist, von Charles Mingus über Steve Coleman bis Django Bates ist schon klug über Form im Jazz nachgedacht und fein gespielt worden. Wir glauben aber mit unserer Besetzung Partner*innen gefunden zu haben, die kreativ und neu zu dem Thema arbeiten können.
„Ganz unten, oben im Norden“ wird sich weiter von der Jazztradition entfernen, als alle bisherigen Projekte des Jazzpool NRW. Oder kann es etwa sein, dass Klangforschung mittels größtmöglicher Offenheit eigentlich ganz nah am Wesen des Jazz sind? Antworten erwarten wir bei „Ganz unten, oben im Norden“.